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Kommentar - TJARDS WENDEBOURG

Die Chance unseres Lebens

Über die letzten Jahre war „Nachhaltigkeit“ eine blutleere Worthülse, die wie eine Monstranz durch jeden Raum getragen wurde. Jeder wusste, dass kein Projekt mehr ohne das Etikett auskommt, aber mehr als das Etikett war es in der Regel nicht.
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Tjards Wendebourg
Tjards WendebourgWilm
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Dann kam Putins Überfall auf die Ukraine und damit der Zwang, den Verbrauch von fossilen Rohstoffen einzuschränken. Denn wohlwissend, dass es für das Klima Gift ist, hatten wir uns in den letzten Jahrzehnten immer weiter vom billigen Russland-Rohstoff abhängig gemacht. Mit den explodierenden Heiz- und Kraftstoffkosten kam plötzlich das abrupte Aufwachen: Nachhaltigkeit, so wird es plötzlich auch den ignorantesten Zeitgenossinnen und Zeitgenossen klar, verändert unser Leben. Auch wenn der beschleunigte Denkprozess nicht von Einsicht hervorgerufen wurde, sondern von der Angst vor kalten Wohnungen und geschlossenen Betrieben, so lässt sich festhalten, dass er jetzt nicht mehr zu stoppen ist. Eigentlich hat Russland mit Nachhaltigkeit so viel zu tun, wie Putin mit Demokratie. Aber weil der Diktator durch das Drehen am Gashahn unser Wunschkonzert beendet hat, beschleunigen sich plötzlich ganz viele Prozesse, deren Durchführung wir auf ferne Termine verschoben hatten. Jäh herausgerissen aus unserer Ignoranz, sehen wir uns plötzlich gezwungen, uns selbst einen Tritt in den Allerwertesten zu geben. Und damit bekommt die Geschichte eine neue Dynamik.

Denn auch gesellschaftliche Entwicklungen, die bereits vorher angestoßen waren, beginnen jetzt sichtbarer zu greifen. Dass etwa die Finanzindustrie die Risiken nicht-nachhaltiger Investments in ihren Büchern verringert und die Großbetriebe dazu gezwungen sind, ihre Nachhaltigkeit zu berichten, wird viele Dinge schneller verändern, als das die Verbraucher heute sehen. Die zukünftigen Arbeitnehmer, die Auftraggeber, der Staat – all diese Prozessbeteiligten werden dafür sorgen, dass aus der blutleeren Worthülse sehr praktisches Alltagshandeln wird. Nun könnte sich die Landschaftsarchitektur zurücklehnen und auf den Ansturm warten, der naturgemäß kommen müsste. Schließlich ist das Produkt „Landschaftsarchitektur“ extrem nachhaltig – oder sagen wir besser: Es hat das Potenzial, extrem nachhaltig zu sein. Denn machen wir uns nichts vor – das, was unter dem Label in der Vergangenheit verkauft worden ist, ist mitnichten alles nachhaltig. Und auch wenn wir aus einer guten Position starten, so gibt es doch eine ganze Menge Nachholbedarf in Sachen Glaubwürdigkeit. In dem Maß, in dem Nachhaltigkeit zur Maßeinheit wird, wachsen die Forderungen an uns, erklären zu können, wie nachhaltig das ist, was wir planen und bauen lassen. Um diese Frage aber schlüssig beantworten zu können, wird eine gründliche Auseinandersetzung mit Prozessen und Materialien notwendig werden. Dafür ist ein gewaltiger Kompetenzzuwachs und an vielen Stellen ein großer Umdenkprozess nötig. Schließlich steckt oft der größte Energieverbrauch – als ein Maßstab für die Nachhaltigkeit eines Projektes – in den Bauprozessen; also jenseits unseres direkten Kompetenzfeldes.

Es wird aber kaum möglich sein, die Verantwortung vollständig an die Umsetzenden zu delegieren. Wir werden Projekte so planen müssen, dass sie energieeffizient abgewickelt werden können. Es wird grundsätzlich unsere Aufgabe sein, Auftraggeberinnen und Auftraggeber dabei zu beraten, was sie tun können oder müssen, um hart formulierten Nachhaltigkeitszielen gerecht zu werden. Die Zutaten sind dafür alle da. Sie aber zu kennen und zu nutzen, wird eine Herausforderung sein; gerade angesichts des Mangels an Fachkräften und eines großen Nachholbedarfs an Sozialisation mit natürlichen Abläufen. Zugleich ist die neue Prozessgeschwindigkeit aber auch die Chance unseres Lebens. Denn wer jetzt Antworten geben kann, wird auch morgen noch gefragte Ansprechperson sein.

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