
Grüner Schatten für einen Sommer
Nicht alle Situationen geben genug Platz für eine dauerhafte Begrünung her. Ein guter Kompromiss ist eine temporäre Begrünung mit einjährigen Kletterpflanzen. Die kreislauffähige Vertikalbegrünung Verd° des start-ups OMC°C aus Frankfurt findet nun den Weg auch an die Fassade.
von Katja Richter erschienen am 17.02.2025Großkronige Bäume sind mit die beste Lösung für sommerheiße Städte. Sie spenden viel kühlen Schatten, binden Staub und Schadstoffe und erhöhen die Luftfeuchtigkeit. Gerade in dicht bebauten Bestandszentren und engen Altstädten fehlt es aber oft am Platz für ausreichend große Baumquartiere. In engen Gassen kann ein Blätterdach die Luftzirkulation eher behindern und es kommt kaum frische Luft in den Straßenraum, im Winter wünscht man sich mehr Licht und stimmungsaufhellende Sonneneinstrahlung.
Sinnvoller kann hier eine temporäre Vertikalbegrünung sein, die nur im Sommer ihre Ökoleistung vollbringt und im Winter einfach wieder abgebaut wird. Die Produktdesignerinnen Nicola Stattmann und Charlotte Stoll von Office for Micro Climate Cultivation (OMC°C) haben mit einem großen Team aus Praktikern das Verd°-System entwickelt. „Wir wollen auf keinen Fall einen Baum ersetzen“, betont Stoll: „Der ist in seiner Evolution schon sehr durchdacht, so viel Zeit hatten wir nicht.“ Oft können aber aus Platzmangel oder, weil in einigen Jahren Baumaßnahmen geplant sind, überhaupt keine Bäume gepflanzt werden.
Temporäre Begrünung in beengten Situationen
Das aus dieser Idee entstandene Begrünungssystem Verd° ist modular anpassbar und kann, in Einzelteile zerlegt, an anderer Stelle wiederverwendet werden. An bis zu zehn Meter hohen, vertikal aufgespannten Netzen aus nachhaltigem und regional produziertem Flachsgarn bilden Kletterpflanzen innerhalb einer Vegetationsperiode ein dichtes Laubwerk. Die Tröge des Prototyps aus recyceltem Kunststoff hängen auf drei Metern Höhe in einer Leichtbaukonstruktion aus Stahl und Holz. So sind Pflanzen und Behälter vor Vandalismus geschützt.

Im Herbst werden die dicht bewachsenen Pflanzsegel per Kurbel eingeholt, für die Kommunen entfällt damit praktischerweise die aufwendige Laubentsorgung. Die Laubmasse inklusive Flachsnetze lassen sich in nahegelegenen Pyrolyseanlagen zu Pflanzenkohle wandeln und dann für Aktivkohlefilter oder, mit Nährstoffen aktiviert, zur Bodenverbesserung nutzen. Weil Grünpflanzen mittels Photosynthese klimaschädliches Kohlendioxid (CO2) in ihren Zellen speichern, sind sie als natürliche CO2-Senken ein wichtiges Instrument bei der Eindämmung der Klimaerwärmung.
Damit das CO2 dauerhaft gebunden bleibt und nicht wieder in die Atmosphäre gelangt, darf das Material allerdings nicht verbrennen oder kompostiert werden. Je nach regionaler Verfügbarkeit lässt sich die anfallende Grünmasse auch in Biogasanlagen verwenden. In der Schweiz ist die Praxis üblich, so werden keine landwirtschaftlichen Flächen für den Anbau von „Energie-Pflanzen“ verschwendet.
Der erste Prototyp war als frei stehendes Sitzelement mit senkrecht aufragenden Pflanznetzen konzipiert. Das daraus entstandene Prinzip Verd° Space überspannt mit schrägen Segeln, so entstehen längere Schatten auf größeren Flächen und es wird weniger Material verbraucht. Durch seine Skalierbarkeit lässt sich das System individuell anpassen. Die Höhe der Pflanzgefäße ist variabel und auch eine Mini-Variante für Kindergärten ist schon durchgeplant. Großmaßstäblich war die skulpturale Sitzgelegenheit Vert im Sommer 2024 auf dem London Design Festival zu sehen. Im Vorhof des Ausstellungsgebäudes zog eine Massivholzkonstruktion mit schwingenden Sitzbänken unter Blättersegeln die Blicke auf sich.
Selbstspannenden Fassadenbegrünung
Seit Anfang September sind die ersten Verd° Facade-Module an einer Industriehalle im Frankfurter Osten installiert. Das Besondere daran: Die Konstruktion ist als Seilwerk konzipiert, das sich mittels Umlenkungen durch das Eigengewicht der Pflanztaschen selbst vorspannt. Das Seilsystem wird nur an der Traufkante und am Sockel des Gebäudes oder am Boden befestigt und darf sich ansonsten annähernd frei vor der Fassade im Wind bewegen. Hierdurch unterscheidet sich Verd° Facade von anderen Fassadenbegrünungssystemen, da es mit minimalen Eingriffen in die Bestandsfassade auskommt. Für Jens-Peter Feidner, Managing Director beim Betreiber Equinix Deutschland, liegt ein Vorteil des Systems in der vom Boden losgelösten Konstruktion: „Damit konnten wir einen Eingriff im Bereich der unterirdischen Infrastrukturelemente des Rechenzentrums, zum Beispiel den umfangreichen Kabeltrassen, umgehen.“
An der 210 Quadratmeter großen Front der Halle des Equinix-Rechenzentrums FR2 wächst bereits eine bodengebundene Fassadenbegrünung. Sie soll langfristig durch die vorgeschaltete Kühlung des Gebäudes die Energieeffizienz der Rechner verbessern und die erhebliche Abwärme der Serverfarm mildern. Bis es die langsam wachsenden Gehölze bis zur Traufe geschafft haben, darf Verd° Facade zeigen, was es kann. An sechs jeweils zehn Meter hohen Modulen wachsen innerhalb einer Saison die schnell wachsenden Einjährigen und schaffen derweil mit Blättern und Blüten neuen Lebensraum mit Kühleffekt. Auftraggeber Equinix will einen Beitrag zu mehr Grün im heißen Gewerbegebiet leisten und dem Start-up Gelegenheit geben, das neu entwickelte System zu testen.
Brandschutztechnisch haben die einjährigen Klimmer anderen Fassadenbegrünungen gegenüber den Vorteil, dass sie nicht verholzen und als nicht brennbar einzustufen sind. Die schlussendliche Entscheidung liegt bei jedem Bauprojekt aber bei der jeweiligen Behörde. Je mehr Beispielprojekte in der Praxis gut funktionieren, um so leichter fällt den Verantwortlichen die Entscheidung.
Pflanzenauswahl und Pflanzenkohle
Im Frühjahr werden die Tröge an Ort und Stelle gebracht, frisch befüllt mit einem eigens entwickelten Substrat, torffrei und speziell auf einjährige Kletterpflanzen abgestimmt. „Wir machen sehr gute Erfahrungen mit Hornspänen in unterschiedlichen Körnungen“, erklärt Carlotta Stoll: „So ist über die gesamte Wachstumsphase genug Stickstoff vorhanden.“ Bepflanzt werden die Behälter möglichst in der Gärtnerei, die die Pflanzen vorproduziert, das spart Arbeit vor Ort.
Um die Pflanzenauswahl kümmert sich ein alter Bekannter in der Gärtnerszene. Dieter Gaißmayer, den die meisten als ökologisch orientierten Staudengärtner kennen, hat sich für Verd° in einen für ihn ungewohnten Zweig der Pflanzenwelt begeben. Eigentlich befindet sich der Altmeister schon im Ruhestand, für das innovative Begrünungssystem ließ er sich nach seinen eigenen Worten gerne „entrenten“. „Das war eine tolle Bestätigung für unser Projekt“, freut sich Carlotta Stoll über die Anerkennung eines ausgewiesen Profis aus der grünen Branche.
1Für Gaißmayer, der dem Projekt anfangs etwas skeptisch gegenüber stand, ist die Zusammenarbeit mit ungewöhnlich vielen Fachleuten wie Architekten, Designerinnen, Ingenieuren für Holz, Stahl und Statik Garant für ein fundiertes Endprodukt. Für den leidenschaftlichen Gärtner ist das Verd°-System die Chance, öffentliches Grün um wesentliche Naturaspekte zu bereichern. „Das menschliche Leben ist ohne Pflanzen nicht denkbar.“ Immer gut, wenn auch Stadtbewohner den positiven Wert von lebendiger Vegetation erleben dürfen.
Volle Leistung im ersten Jahr
Für die Laubnetze braucht es Pflanzen, die gleich im ersten Jahr volle Leistung bringen. „Ich habe mich insbesondere mit Kletterpflanzen beschäftigt, die noch nicht so verbreitet sind. In der Regel wird die Kletterleistung von Pflanzen nicht gezielt erforscht und getestet“, berichtet der Vollblutgärtner im Interview. „Als ich dann zum Beispiel die schnelle und enorme Wuchsleistung der Mondwinde (Ipomea) gesehen habe – das hat mich doch beeindruckt und begeistert. Auch die Käsepflanze (Paederia lanuginosa), die nach Camembert schmeckt, oder die Knollige Kapuzinerkresse (Tropaeolum tuberosum) aus Peru haben mich sehr fasziniert.“

Aktuell im Test sind Inkagurke (Cyclanthera pedata) und Basellkartoffel (Anredera cordifolia), beide aus Südamerika. Letztere klettert nicht nur wahnsinnig schnell, sie hat auch ein besonders festes Blattwerk. Ein Vorteil bei Wind oder innerstädtischer Hitze, denn so verdunstet nicht so viel Feuchtigkeit wie zum Beispiel bei weich blättrigen Bohnen.
Manche der Kletterer legen pro Woche um einen Meter Höhe zu. „Das ist ein besonders schöner Aspekt an den Systemen: sie sehen bei jedem Besuch anders aus!“, freut sich Designerin Stoll. Das Mini-Ökosystem reguliert sich im Notfall selbst: Fällt eine Pflanze aus, übernimmt eine andere schnell die Lücke. Manche sind wahre Himmelsstürmer und produzieren massenweise Blätter, andere, wie die Kapuzinerkresse, bleiben kleiner und punkten dafür mit einer Woge gelboranger Blüten. Die verschiedenen Grüntöne und Blattstrukturen weben einen üppigen Teppich. Mit den ersten Frostnächsten ist die grün bunte Pracht vorbei und die vollen Netze werden eingeholt, neuer Rohstoff für die Kreislaufwirtschaft.
- Bauherr: Equinix (Germany) GmbH
- Fläche: 210 m²
- Baubeginn und Fertigstellung: August 2024
- Baukosten: 59.000 €
- Bepflanzung: unter anderem Käsepflanze, Feuerbohne, spanische Flagge, schwarzäugige Susanne, Winden
- Planung und Pflanzung: https://omc-c.com
- Statik: www.bollinger-grohmann.com
- Design: www.diezoffice.com
- Bauüberwachung: www.justarchitekten.de
- Stahlbau: www.wurst-stahlbau.de
- Pflanzen: www.gaissmayer.de
- Substrat: https://klasmann-deilmann.com
- Pflanzgefäße: https://bacsac.com
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