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Stadtforschung Toronto

Staging Ground – Schwammstadt unter der Autobahn

Toronto wandelt den ungenutzten Raum unter einem Viadukt zum öffentlichen Raum und nutzt dieses Areal zusätzlich als Schwammstadt. Das Forschungsprojekt der Stadt soll Erkenntnisse zum Umgang mit Starkregen und Überschwemmungen liefern.

von Dr. Monika Jäggi erschienen am 29.08.2024
Toronto © Monika Jäggi
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Die mit farbigen Stoffen bespannten Metallgestelle fallen auf. Sie scheinen deplatziert neben der lärmigen Schnellstraße, dem Lake Shore Boulevard, und unter dem rostigen Autobahnviadukt The Gardiner Expressway. Die erhöhten Gehwege über dem mit Flusssteinen ausgelegten Untergrund, die Geländer und Sitzgelegenheiten hingegen wirken unerwartet einladend und die gelben, an Stangen befestigten Informationstafeln machen neugierig. Neben mächtigen Betonpfeilern stehen große Pflanzgefäße, „Staging Ground“ prangt in großen, gelben Buchstaben an nummerierten Pfeilern. Was geht hier vor?

Bisher wurde die verwahrloste Ecke unter dem Expressway von Anwohnern als direkter Zugang zum See genutzt. Aber das ist Toronto: In der kanadischen Millionenstadt ist vieles möglich und wird auf kreative Weise ausprobiert und inszeniert – so wie das Projekt Staging Ground, ein Park-, Kunst- und Lernprojekt zwischen Pfeilern und unter Rost. Dieses soll während seiner zweijährigen Laufzeit Erkenntnisse liefern, wie sich die Stadt zukünftig bei Starkniederschlägen besser vor Überschwemmungen schützen kann und Erfahrungen zu den Themen Schwammstadt und Regenwassermanagement sammeln. Wie die Starkniederschläge im Sommer 2024 mit Überschwemmungen, Infrastrukturschäden und hohen finanziellen Kosten einmal mehr gezeigt haben, ist das hier dringend notwendig.

Die neu bespielte Fläche in der Form eines Triangels ist nur 1.858 m² groß, aber seit ihrer Umgestaltung kaum mehr wiederzuerkennen. Die Inszenierung sei eine neue Art der öffentlichen Infrastruktur, „ein multidimensionaler Raum, der aktives Lernen ermöglicht, eine urbane Bühne bietet und eine experimentelle Zone für die Regeneration der Umwelt“, erklärt Tei Carpenter, Landschaftsarchitektin, Mitbegründerin und Direktorin der New Yorker Agentur Agency-Agency. Ein Designteam unter der Leitung von Carpenter und dem Architekten und Künstler Reza Nik schufen Staging Ground, für die technische Installation zeichnet das international tätige Ingenieurbüro Buro Happold verantwortlich.

Von no-go zu hip

Staging Ground ist nicht nur ein Experimentier-Labor, sondern auch die neuste Umnutzung im Rahmen des 6,5 km langen Stadtparks „The Bentway“. Dieser windet sich unter dem Expressway durch 17 Quartiere und stellt eine wichtige Etappe dar in der weiteren Parkentwicklung. Ein kurzer Rückblick in die Geschichte des Bentway zeigt Erstaunliches: The Bentway, in Anlehnung an die Reihe der stützenden Betonpfeiler, den Bents, wurde 2017 einer zunächst irritierten, dann begeisterten Öffentlichkeit zum Begriff. Damals wurde unter dem Gardiner Expressway versuchsweise eine 1,75 km lange Strecke umgestaltet: Durchwegt, begrünt, mit Skate-Anlage sowie einem Amphitheater mit 250 Sitzplätzen und temporären Bühnen.

Der lineare Parkabschnitt unter dem Gewölbe des Viadukts wurde innerhalb kurzer Zeit zu einem der angesagtesten Treffpunkte der Stadt, den seither zahlreiche Organisationen aus allen Gesellschaftsbereichen bespielen – mit Konzerten, Ausstellungen, Führungen oder Workshops. Der Bentway lässt sich überall betreten und wieder verlassen. Davor war das „Darunter“ eine No-go-Zone: Mit Pionierpflanzen überwachsen, unzugänglich, abweisend, abgesperrt und die Betondecke des Gardiner-Viadukts in einem prekären baulichen Zustand (wir berichteten in FREIRAUM GESTALTEN, 3/2020, siehe Link).

Toronto
Toronto © Monika Jäggi
National Urban Design Award

The Bentway Staging Ground hat 2024 den National Urban Design Award in der Kategorie Urban Fragments gewonnen. Seit 2010 wird dieser jährlich durch das Royal Institute of Canada verliehen.

Der Gardiner ist eines der auffälligsten und hässlichsten Bauwerke der Stadt. Seit seinem Bau in den 60er-Jahren wird das Viadukt kontrovers diskutiert. Nicht nur trennt dieses das Stadtzentrum vom See, es wird täglich von 140.000 Fahrzeugen befahren, ist veraltet, reparaturbedürftig, kostenintensiv und aus der Zeit gefallen. Anstatt das Viadukt abzureißen, beschloss die Stadt jedoch 2016, dieses zu erhalten und zu renovieren – über seine Mobilitätsfunktion hinaus. Ziel war, mit The Bentway das gesamte „Darunter“ des Viadukts einer anderen Funktion zuzuführen, und einen Park zu schaffen, der für rund 100.000 Quartierbewohner zum Naherholungs-, Erlebnis- und Lernort wird. „Sein Bau diente nur dazu, Autos zu transportieren“, sagt Ilana Altman, Co-Geschäftsführerin von The Bentway Conservancy, „die Umgestaltung ist der einzige Weg zu einer barrierefreien Stadt.“ Die Nichtregierungsorganisation entwickelte den sogenannten Under Gardiner Public Realm Plan. Darin macht sie Vorschläge, wie die Räume unter dem Expressway zugänglicher und attraktiver gestaltete werden können.

Indigene Vergangenheit trifft auf Heute

The Staging Ground ist nicht nur das aktuelle Vorzeigeprojekt des Bentway: Wie in allen neuen Parkprojekten ist die Zusammenarbeit mit indigenen Beratern entscheidend und Teil der nationalen „Strategie zur Gestaltung indigener Orte“ (National Indigenous Place Making Strategy). Diese will die indigene Präsenz in Kanada durch Kunst und Design wieder herstellen. Sie wird von indigenen Gemeinschaften geschaffen, produziert und vorangetrieben und basiert auf deren Wissen. Hier trifft Vergangenheit auf Gegenwart und Zukunft – auch beim Staging Ground.

Toronto – Staging Ground
Toronto – Staging Ground © Monika Jäggi

Dort ließ der Afro-Indigene (Ojibwe) Gartenbauer Isaac Crosby, ökologischer Berater des Projekts, seine Vision in die Pflanzenauswahl einfließen: Der Untergrund ist dunkel, die Sonneneinstrahlung spärlich. In seinen Vorstellungen wirkt der Schattenwurf des Viadukts wie die Baumkronen eines Waldes – das „Darunter“ wird zu einem dunklen, feuchten Waldboden. Entsprechend wählte er, als symbolischen Wald-Unterwuchs, einheimische Pflanzen aus, darunter der Bulbenblasenfarn (Cystopteris bulbifera), die Doldige Aster (Doellingeria umbellata) oder die Kanadische Akelei (Aquilegia canadensis). Sie sind vor Jahrhunderten hier vorgekommen, damals, als der Wald dort auf den See traf, wo das heutige Viadukt verläuft.

„Es interessiert uns nicht nur, welche Pflanzen die schattigen Lichtverhältnisse am besten ertragen“, sagt der Umwelttechniker Alexus Maglalang beim Treffen am Staging Ground. Er arbeitet bei der Toronto and Region Conservation Authority (TRCA) und ist zuständig für das Monitoring und Reinigen der Infrastruktur. „Wir prüfen auch die Wasserqualität, wollen wissen, wie viel Wasser die Pflanzen benötigen, kontrollieren das Durchflussvolumen und die Fließgeschwindigkeit des Wassers, bis es versickert ist.“ Ziel sei es, dass Wasser bei Starkniederschlägen länger zurückgehalten werde.

Vom Viadukt ins Grundwasser

Zuerst berechnete das Ingenieurbüro Happold die lokalen Niederschlagsmuster sowie die Abflussraten der einzelnen Rohre. Daraus entwickelte es maßgeschneiderte Filterkammern für die einzelnen Tröge. „Die passive Wasserfilterung und Rückhaltung helfen, das Risiko von lokalen Überschwemmungen zu verringern“, erklärt Maglalang. Jeder dieser Tröge sei individuell kalibriert, ihre jeweilige Pflanzenzusammensetzung und Position entsprechend der Sonneneinstrahlung, des Niederschlags und Windes ausgerichtet.

Bislang wurde das mit Schadstoffen wie Schwermetallen und Salz verschmutzte Regenwasser vom Expressway in Rohren ungefiltert in den Boden unter dem Viadukt geleitet. Neu eingesetzte Knierohre führen das Wasser nun direkt in kleine Tröge – in die Filterkammern, die mit Schichten aus Sand, Kies, Schotter und speziell angefertigten Textilien ausgelegt sind, um Schmutz- und Schadstoffe aufzufangen.

Das so gereinigte Wasser sammelt sich in einem Reservoir im tieferen Teil der Pflanztröge, wo es für die Pflanzenwurzeln verfügbar wird und bewirkt, dass die Pflanzen ihre Wurzeln tiefer wachsen lassen. Das überschüssige Wasser fließt sodann durch ein Rohr in den Überlauf-Garten, einen weiteren, mit Kies gefüllten Trog. Danach wird das Wasser in das Grundwasser geleitet und fließt von dort in den nahen Ontariosee.

In den Pflanztrögen stehen salzabsorbierende Pflanzen wie die Kanadische Wicke (Astragalus canadensis oder das Milchkraut (Glaux maritima), die Duftnessel (Agastache foeniculum), die Blutwurzel (Sanguinaria canadensis), die Erdnuss (Arachis hypogaea) und die Schafgarbe (Achillea millefolium).

Toronto – Staging Ground
Toronto – Staging Ground © Monika Jäggi

Wo Bäume im Wasser stehen - Kunst und KI

Zurück zu den Gerüsttürmen. Die Stoffe setzen farbige Akzente, dienen als raumwirksame Puffer, sollen lärmabsorbierend wirken und neue Merkzeichen entlang des Lake Shore Boulevard setzen. Und sie haben noch eine zweite Bedeutung: Staging Ground zeigt an den Türmen ein wechselndes Programm indigener Kunst, das auf die besonderen Begebenheiten des Geländes eingeht. Aktuell sind es die Werke des Mi’kmaq Künstlers Logan MacDonald, der hier erstmals seine Serie „Fountain Monumental“ präsentiert. Er thematisiert den historischen, vorindustriellen Zustand des Geländes als Feuchtgebiet an den Ufern des Ontariosees, das ein Ökosystem aus Süßwasserpflanzen, Wasservögeln, Insekten, Fischen und anderen aquatischen Tiere beherbergte. Konkret zeichnet er die ursprüngliche Uferlinie des Ontariosees nach und lädt mithilfe KI-gestützter Darstellungen dazu ein, sich eine Zukunft vorzustellen, in der die Erhaltung der Umwelt Priorität hat.

Inspiriert von der Bedeutung von „Tkaronto“, dem Mohawk-Namen der Stadt Toronto, „wo Bäume im Wasser stehen“, nimmt MacDonald Bezug auf die Geschichte des Ortes und stellt eine Welt vor, in der alte Kiefern und Fichten geehrt werden, vergleichbar mit Erinnerungsstätten oder Monumenten in Städten. Jedes Bild erscheint wie eine alte Fotografie oder ein Landschaftsgemälde, das auf subtile Weise umgestaltet wurde, um die kanadische Geschichte kritisch neu zu interpretieren.

Carpenter spricht im Rückblick von einer großen Herausforderung, den Staging Ground zu realisieren: Die Betonsäulen, die die Autobahn stützen, sind 12 m hoch, der Raum darunter sei beeindruckend riesig. „Heute vermitteln die Gehwege, die Geländer und die Pflanzen ein neues Raumgefühl – die menschliche Dimension wirkt einladend.“

The Staging Ground ist ein temporäres Projekt. Dieser Viadukt-Abschnitt wird ab Ende 2025 renoviert. Die aus dem Klimaprojekt gezogenen Erkenntnisse sollen jedoch in die Neugestaltung dieser Fläche einfließen, wie auch in alle, bis 2030 neu zu gestaltenden Abschnitte unter dem Gardiner Viadukt.

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