Eine wilde Wand für Insekten & Co
Welcher Mehrwert durch Fassadengrün für die biologische Vielfalt entsteht, testet derzeit das transdisziplinäre Forschungsprojekt „Die wilde Klimawand“ auf dem Fraunhofer Campus in Stuttgart.
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Viele einheimische Wildstauden hatten sich die Planerinnen für die Wilde Klimawand gewünscht. Biodiversität steht an oberster Stelle des Projekts unter Leitung des Instituts für Akustik und Bauphysik an der Universität Stuttgart. „Aber die waren dann gar nicht so einfach zu beschaffen“, erinnert sich Eva Bender, Landschaftsarchitektin und für das Partnerinstitut für Landschaftsplanung und Ökologie (ILPÖ) im Projektteam dabei. Regionales Saatgut für Wildstauden zu bekommen sei kein Problem– aber als kultivierte Ware? „Da gibt es fast gar nichts! Wir haben es dann mit sehr alternativen Mitteln zusammen mit unserem Praxispartner von Helix Pflanzensysteme GmbH geschafft, trotzdem viele Wildstauden in die Wand zu bekommen.“ Die unkonventionellste Lösung: ein Großteil der nicht verfügbaren Stauden wurde aus Saatgut gezogen und auf den Fensterbänken von Helix-Büromitarbeitern gepflegt.
Genau das ist der Auftrag des Forschungsprojekts: Wie funktioniert eine biodiverse Wandbegrünung in der Praxis? Welche Probleme treten auf und wie kann man diese am besten lösen? Und, besonders interessant: welche klimatischen Auswirkungen hat die etablierte Vertikalbegrünung konkret auf ihre Umgebung und auf die hiesige Artenvielfalt? Förderer des Projekts ist der Stuttgarter Klimainnovationsfonds.
Lebensräume für Vögel, Fledermäuse und Insekten
Im Gegensatz zu den meisten anderen Wandbegrünungssystemen steht hier die Biodiversität im Fokus: „Uns geht es in erster Linie um eine vielfältige Flora und Fauna. Unser Anspruch ist die Biodiversität, da sind wir mit wenigen anderen kleineren Forschungsprojekten Vorreiter“, beschreibt Bender den Ansatz: „Ästhetik unserer Wände ist dem Wechsel der Jahreszeiten unterworfen und steht beim Projekt nicht an erster Stelle.“ Dass das eine Herausforderung im verdichteten urbanen Raum bedeutet, ist ihr klar: „Hier gibt es einen deutlichen Bildungsaspekt“, stellt die Pflanzenkennerin fest: „Manchen Menschen missfällt die trockene Optik im Winter, nicht alle finden eine immergrüne Wand unnatürlich.“ Dabei gäbe es auch außerhalb der Vegetationsperiode viel zu entdecken auf den zirka 80 m² der wilden Klimawand. Die Akzeptanz steige deutlich, wenn der Wert der naturbelassenen Grünfassade vermittelt wird: „Und wenn man einmal gesehen hat, wie die Stieglitze im Herbst und Winter die Samenstände der spontan aufgegangen Disteln abpicken, erkennt man den Mehrwert und die eigene Schönheit trockener Pflanzenstrukturen“, Man spürt Benders eigene Begeisterung, wenn sie von den farbigen Vögeln erzählt, die man in der Stadt nicht oft zu sehen bekommt.
In die wandgebundene Pflanzung integriert sind unterschiedliche Nistangebote für Insekten, Vögel und Fledermäuse. In Kästen haben die Planerinnen unter anderem Habitate für Höhlenbrüter, Lehmwände, aber auch Sandarien entworfen. „Wir wollen schauen, ob sich bodennistende Wildbienen auch in der Senkrechten ansiedeln lassen.“ Der Großteil der an die 600 hoch spezialisierten Wildbienenarten nisten im Boden, nur ein Viertel von ihnen in vertikalen Strukturen, sie nutzen die üblichen Habitatstrukturen an Wänden nicht.
„Neben der Mauerbiene, die immer sehr schnell zu Stelle ist, sobald man Habitate anbietet, sehen wir hier auch viele andere Wildbienen.“ Auch wenn diese nur für Pollen und Nektar kommen und anderswo ihre Nisthöhlen finden, ist ihr Auftreten wichtig und wird mit dokumentiert. Das Monitoring wird mit den unterschiedlichen Verschlussweisen der Niströhren ergänzt, die Aufschluss über die Bewohnerinnen geben.
Auch bei den Habitaten sorgt die Realität immer wieder für Überraschungen. So hatte sich gleich im ersten Jahr ein Hornissenvolk im Mauerseglerkasten wohlgefühlt und ihr Nest aus Holzfasern gebaut, die sie im nebenan angebotenen Totholz gefunden hatten.
Positiv wirkt sich die Grünmasse nicht nur mit einem Kühlungseffekt für das Gebäude aus. Die grünen Strukturen verhindern ein Überhitzen der Vogelkästen. „Wir messen auch die Temperatur in den Kästen. An heißen Sommertagen lassen sich über 15° Differenz zwischen Habitaten mit und ohne Grünpuffer nachweisen“, berichtet Bender, die die Wand mit den Partnerinnen von IABP und Helix regelmäßig kontrolliert. Für junge Mauersegler kann das den lebenswichtigen Unterschied ausmachen, wenn die Hitze zur tödlichen Flucht aus dem Nest zwingt.
Pflanzen mit Pollen und Nektarangebot
Die Pflanzenauswahl ist größtenteils auf Wildbienen abgestimmt und orientiert sich an den natürlich vorkommenden Wildbienen in Süddeutschland und im Raum Stuttgart. „Wir haben ein Blühspektrum von März bis in den Spätherbst. Es blühen immer einzelne Bereiche.“
Durch das Anpassen der Pflanzlisten an das Marktangebot kamen auch bekanntere Stauden und Kräuter in größeren Stückzahlen zum Einsatz. Minzearten zum Beispiel sind leicht verfügbar und sehr wertvolle Futterpflanzen für viele Bestäuberinsekten. Das wuchsfreudige Kraut mit den ätherischen Ölen hat sich im ersten Standjahr gut entwickelt. Ein bisschen zu gut vielleicht - im letzten August mussten die Pflanzen stark zurück geschnitten werden, auch Weißklee und Rotklee fühlen sich sehr wohl. „Das sind genau die Lernprozesse, wie wir sie haben wollen.“
Für Eva Bender hängt mit dieser Erfahrung ein kleiner Appell zusammen: „Es kommt ja langsam ein Verständnis dafür auf, welche Relevanz und Wichtigkeit Wildstauden haben. Das wäre ein Anlass, das allgemeine Sortiment mehr in diese Richtung anzupassen.“ (...)
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